Einführung

Erst einmal wollen wir ein allgemein verbreitetes und grundlegendes Missverständnis aus dem Weg räumen: Wenn bei Händel eine Oper in Persien spielt, dann spielt sie deshalb noch lange nicht in Persien. Bei ihm sind historische Hintergründe immer nur dazu da, damit er vor ihnen menschliche Auseinandersetzungen und Gefühle darstellen kann. So wie Giulio Cesare mitnichten eine Historienoper über das Ägypten Kleopatras ist oder Rinaldo eine Darstellung der Kreuzzüge vor den Toren Jerusalems, so geht es auch in Serse nicht eigentlich um den historischen Perserkönig Xerxes, der 485 bis 465 v.Chr. gelebt hat und von dem wir in der Schule zumindest im Zusammenhang mit seiner Niederlage gegen die alten Griechen in der Seeschlacht bei Salamis mal etwas gehört haben. Wohl ist dieser Mann die Titelfigur in der Oper Serse, aber von seinen historischen Taten wird lediglich einmal der Brückenschlag nach Europa erwähnt. Die eigentlichen Themen dieser Oper sind Herrscher-Größenwahn und Liebe als Verwirrspiel, und beides wird dargestellt an einer historischen Figur und ihrer Umgebung, die man auch gegen jede beliebige andere austauschen könnte.

Warum benutzte Händel für seine Opern historische Stoffe, wenn er keine historischen Opern schreiben wollte?

Nun ja, irgendeine Geschichte musste er ja erzählen, und ob das nun eine Novelle aus dem 16. Jahrhundert war wie die Vorlage zu seiner Oper Ariodante oder ein historischer Plot wie die Geschichte der Verbandelung zwischen Caesar und Kleopatra, das war ihm vermutlich gleich. Dem Publikum sowieso. Das wollte sich in der Oper unterhalten, amüsieren, viel buntes Bühnenspektakel genießen und seine Lieblingssänger möglichst viele schöne und virtuose Arien singen hören. Die Handlung war nicht so wichtig. Und Händel selbst ging es vor allem um Gefühle. Liebe, Macht, Treue, Verrat, Freude und Trauer, Schuld und Sühne, Reue und Vergebung – die gesamte Emotionspalette, der er mit seiner Musik Ausdruck verlieh. Was spielte es da für eine Rolle, ob da ein König, ein Ritter oder eine verlassene Frau trauerte – auf die Wahrhaftigkeit der Trauer kam es an. Die Zuschauer sollten bei ihren Gefühlen gepackt und mitgerissen werden. Wie viele von den einfachen Londonern, die Händels Opernvorstellungen besuchten, wussten schon etwas von den historischen Taten des Perserkönigs Xerxes, von seinen Kriegen gegen die alten Griechen etc.? Wichtig war nur, dass es eben ein König war, der da sein Unwesen trieb. Dass ein König seine Macht zu seinem Vorteil missbraucht und dafür andere, darunter seinen eigenen Bruder, ins Unglück stürzt, das ist immer das gleiche Unrecht, ob es nun der König von Persien, von England oder von sonstwo ist. König ist König.

Interessanterweise hat Händel, obwohl er wusste, wie gern sich sein Opernpublikum amüsierte, nur eine einzige Oper geschrieben, die in ihrer gesamten Anlage komisch ist, und das ist eben Serse, ein Spätwerk, das 1738 in London uraufgeführt wurde, also nur wenige Jahre, bevor Händel sich dem Genre Oper ab- und dem Oratorium zuwandte. Der Vergleich mit Verdis Falstaff drängt sich auf: Auch Verdi hat nur dieses eine Meisterwerk der komischen Oper geschrieben, und auch Falstaff war ein Spätwerk. Und in beiden Fällen endet die Oper mit einer großen allgemeinen Versöhnung – was aber im Gegensatz zu Verdi bei Händel absolut Usus war. Opern hatten damals mit einem Happy-End zu enden, und wenn es noch so zweifelhaft war wie z.B. in Ariodante, wo das Liebespaar Ginevra und Ariodante zwar am Ende vereint wird, aber ob sie nach all den durchlittenen Intrigen, Zweifeln und Anklagen jemals glücklich werden, bleibt offen.

Oft genug muss in Händels Opern erst mal mindestens eine Figur – meist der Intrigant oder der Tyrann – sterben, damit es überhaupt zu einem Happy-End kommen kann, ob das nun Tolomeo in Giulio Cesare, Garibaldo in Rodelinda oder Polinesso in Ariodante ist. Die Oper Serse jedoch kommt ohne Leiche zu ihrem glücklichen Ende. Auch wenn Serse mehr als einmal drauf und dran ist, einen Mord zu begehen bzw. begehen zu lassen. Doch trotz seiner Herrscher-Allüren und Wutanfälle hat der König auch Augenblicke, wo er ruhig über seine Situation und seine Liebe nachdenkt, und Händel schenkt ihm dafür Melodien, wie er auch für den treuesten und aufrichtigsten Liebenden keine schöneren hätte schreiben können. Offensichtlich liegt Serse also wirklich etwas an Romilda, es ist nicht nur eine Laune oder die Herausforderung des Wettbewerbs gegen den kleinen Bruder Arsamene. Dieser wiederum hat die ausdrucksvollsten, bewegendsten Arien, die seiner Trauer über den scheinbaren Verlust Romildas intensiv Ausdruck verleihen, er kann aber auch die Krallen zeigen, wenn sein Bruder ihn zu sehr reizt oder wenn er für einen Augenblick an Romildas Liebe zweifelt. Romilda ist ebenso zwischen sämtlichen Gefühlsschwankungen hin- und hergerissen wie ihre Schwester Atalanta, denn sogar der hat Händel offenbar die Echtheit ihrer Liebe geglaubt – und ihr dafür dann zum Ausgleich musikalisch den Mut geschenkt, ein neues Ziel ins Auge zu fassen. Amastre leidet neben Arsamene am meisten unter den Machenschaften Serses, und auch wenn sie nach außen den coolen Krieger spielt, so tobt in ihrem Innersten stets ein Wechselbad der Gefühle, das von Zorn und Rachsucht bis zur Verzweiflung darüber reicht, dass sie ihr Herz einem treulosen Verräter geschenkt hat und ihn trotz allem immer noch liebt. Ob Serse aber umgekehrt auch Amastre liebt, bleibt dahingestellt. Händel äußert sich diesbezüglich mit keiner Note.

Dennoch: Ende gut – alles gut. Bis es soweit ist, erwarten Sie ein paar Stunden bunte fröhliche Show, ganz im Sinne der Londoner Opernszene zur Händelzeit, als man das Publikum vor allem mit farbenprächtiger Ausstattung und buntem Spektakel ergötzte. An der Spitze dieser Ausstattungsorgie steht Serse, die Diva, die sich vor jeder neuen Szene erst mal umzieht. Dass ihm dabei ständig zwei Krankenschwestern assistieren, ist eine mehr als subtile Anspielung auf seinen unberechenbaren Geisteszustand. Außerdem ist er stets von einer Schar tumber Gestalten mit kurz geschorenem Haar und verstaubter Kleidung umgeben – das sind Serses Untertanen, Statisten, die durch vielfältige Aufgaben fest in das Geschehen integriert sind. Sie sorgen dafür, dass die Bühne bis zum Schluss eine Showbühne bleibt, auf der Serse sich darstellen kann, auf der Atalanta ihre Nummern abziehen kann und auf der alle Beteiligten ihren Gefühlen freien Lauf lassen können. Auf diese Weise ziehen sie auch uns in das Geschehen mit hinein, lassen uns teilhaben an ihren Freuden und Ängsten, ihren Sorgen, Hoffnungen und Träumen. Lassen Sie sich einfach hineinfallen in das bunte Spektakel, lachen und weinen Sie mit und amüsieren Sie sich. Sie könnten dem guten alten Händel keinen größeren Gefallen erweisen.